Eröffnungsbemerkungen von Meister Dogen

“All die verschiedenen Buddhas sind außergewöhnliche Menschen.
Es gibt acht Realisierungen oder Qualitäten, deren sich diese außergewöhnlichen Menschen gewahr werden und deswegen werden sie als die acht Qualitäten eines großen Menschen bezeichnet. Sich dieser Dharmas bewusst zu werden, wird zur Ursache für (das Betreten von) Nirvana. Am Abend, als er ins Nirvana eintrat, war dies die letzte Lehre und das Testament unseres ersten Lehrers, Shakyamuni Buddha.

Wenn wir nicht ständig tiefer in den Buddhadharma eintauchen, eine Schaufel nach der anderen, werden wir aus Brauch oder Gewohnheit nur noch dümmer oder seniler. Wie auch immer, das Ausgraben einer Schaufel ist keine leichte Aufgabe.” Dogen Zenji

Kommentar von Gyoriki: Gerade für Eltern und Pädagogen sollte das Ziel sein, den Kindern einen Sinn im Leben zu vermitteln und ihnen zu ermöglichen, ein wahrer Erwachsener zu werden.
Stattdessen tun sie meist das Gegenteil, sie leben ihren Kindern, das Leben eines Gakis vor, eines hungrigen Geists. Was tut ein Gaki, der sich mitten in der Hölle des menschlichen Lebens befindet? In der Hölle sieht man die Gakis mit zwei Metern langen Löffeln sitzen und kann beobachten, wie sie versuchen, die kostbarsten und leckersten Speisen in sich hinein zu schaufeln. Sie schreien dabei vor Hunger, weil es ihnen mit den langen Löffeln einfach nicht gelingen mag, etwas Nahrung zuzuführen. Schaut man dagegen zur gleichen Zeit in den Himmel, so sieht man dort die Engel vor den gleichen herrlichen Speisen und ebenfalls mit 2m langen Löffeln ausgerüstet sitzen und kann dabei beobachten, wie sie sich voller Genuss gegenseitig füttern.

Letzteres wäre also sinnvoll den Kindern beizubringen und vieles anderes mehr. Ihnen beibringen, dass es ein grosses Geschenk ist, als Mensch geboren zu werden. Das es ein Privileg ist, in einem der reichsten Länder der Erde zu leben. Dass das Leben von der Natur vom Kosmos geschenkt wird, die Sonne, die Erde, alle Tiere und Pflanzen und Lebewesen, dazu beitragen, dass das Leben überhaupt möglich ist. Dass sich Pflanzen und Tiere für uns opfern, damit wir Nahrung zu uns nehmen können.

Was wir aber tun ist, ihnen zum Geburtstag mit vielen Geschenken zu gratulieren, statt das geschenkte Geschenk des Lebens zu würdigen. Wir gratulieren Ihnen zu guten Noten, zum Schulabschluss, zur Hochzeit, zur Beförderung, zur höheren Gehaltsstufe, ohne zu wissen, ob das alles Ihnen oder anderen auch wirklich gut tun wird.

Letztens auf einem Fest: Ein siebenjähriges Kind möchte von einem anderen Kind 2 CHF Ausleihgebühr für ein Spielauto. Die Reaktion der Eltern darauf: “Ist er nicht herzig, der X. ist immer so fasziniert von Geld, er hat letztens schon Zinsen für geliehenes Geld verlangt, und wenn er etwas gebaut hat, dann verlangt er Eintritt von uns, wenn wir es sehen wollen. “Hehehe, ist es nicht herzig!” So auch bei diesem Fest, die eingeladenen Kinder malen etwas zusammen, dann wollen sie uns erklären, was sie da gemalt haben. Dafür sollen wir Eintritt zahlen. Die Mutter verteilt uns Spielgeld, damit wir Eintritt zahlen können.

Die Grundidee war ja nicht schlecht, die Kinder, die sich wenig kennen, malten und machten etwas Kreatives gemeinsam. Aber was letztlich daraus wurde, ist: Wir machen etwas gemeinsam, um Geld zu verdienen.

Wir wundern uns, dass Kinder heute das Material nicht würdigen, die Spielsachen kaputt machen, immer mehr Dinge fordern, anstatt sorgsam und dankbar zu sein.

Als Mensch haben wir die grosse Chance, mehr als alle Lebewesen diese wunderbare Welt zu schützen und positiv zu verändern. Stattdessen lehren wir den Kindern, sie zu zerstören, sie nicht wert zu schätzen, sie zu nutzen.

Der Dichter Du Fu schrieb im 8 Jhdt:

Das Reich ist zerstört, aber die Flüsse und Berge leben weiter.

Der japanische Dichter Sakai drehte die Zeilen zu einem zeitgemässen Satz um: Die Flüsse und Berge sind zerstört, der Staat lebt weiter.

Man sagt, dass es auf der Erde zwischen 10 und 30 Millionen Arten von Organismen gibt und schätzt, dass die Hälfte schon verschwunden und ausgerottet wurde.

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„Alles ist vergänglich!“ lehrt der Buddhismus, das Prinzip der Impermanence ist einer der unumstösslichen buddhistischen Pfeiler. In der Tat! Und somit besteht genau deswegen Anlass, sich behutsam fortzubewegen und möglichst wenig Schaden an zu richten.

B. Wilcox schrieb dazu: „Der Tod ist das eine, aber das Ende der Geburten ist etwas ganz anderes.“

G.Snyder schrieb: “Unser derzeitiges Problem – und unser Kampf – ist der mit uns selbst. Es wäre anmassend zu glauben, Mutter Erde sei auf unsere Gebete und heilende Kräfte angewiesen.
Die Menschen selbst sind in Gefahr und das nicht nur Sinne eines Überlebens der Zivilisation, sondern grundlegender, auf der Ebene von Herz und Seele. Wir verstehen unsere eigene Natur nicht,und sind uns nicht im Klaren darüber, was es heisst Mensch zu sein.”

Das, was jede Schnecke, jede Blume, jeder Vogel, jeder Einzeller weiss, haben wir verloren. Im Haichi Dainin gaku meditiert Meister Dogen darüber, was es heisst, Mensch zu sein.

K. Sawaki redete oft vom Normalzustand in Zazen und von der kosmischen Ordnung, die wir durch die Zenpraxis kennenlernen, verstehen und befolgen können.

Doch diese Begriffe stehen nicht für ein neues humanistisches Konzept, im Gegenteil. ‚Normal werden‘ ist im Sinne von ‘wahrer Mensch sein’, die ‘Natürlichkeit des Menschen’, von ‘Buddha Natur’, der ‘Natur’, ja eigentlich sogar ‘der Wildnis’ zu verstehen.

So gut wie alle Menschen heute leben in der Stadt, sind kultiviert und zivilisiert und, wenn man bei wenigen genauer hinschaut, sind Wohlstandsverwahrloste und Lebensuntüchtige.

G.Snyder schreibt: “Wir können jedoch wieder zurück in die Wälder streunen. Man verlässt die sichere, langweilige Komfortwohnung, um sich auf etwas einzulassen, sich in eine archetypische Wildnis zu begeben, die gefährlich und bedrohlich ist, voller Bestien und feindseliger Fremder. Diese Art der Begegnung mit dem Anderen – sowohl dem Inneren wie dem Äusseren – setzt voraus, dass man Komfort und Sicherheit aufgibt, Kälte und Hunger akzeptiert und bereit ist, alles mögliche zu verzehren. Möglicherweise sieht man sein Haus nie wieder. Einsamkeit ist unser Brot. Deine Knochen mögen eines Tages im Schlamm eines Flussufers hervorkommen. Das alles garantiert Freiheit, Entwicklung und Erlösung. Ungebunden. Erlöst. Verrückt für eine Weile. Es bricht Tabus, fördert die Grenzüberschreitung, lehrt Demut. Das Herausgehen – das Fasten – für sich allein singen – das Sprechen über die Grenzen der Spezies hinweg, beten – Dank sagen – und zurückkommen.”

Nicht anders ist ein Rohatsu machen, es verlangt, den anderen wie sich selbst anzunehmen und die Trennungslinie zu überwinden – nicht eins werden, nicht die Vermischung der Dinge, sondern Gleichheit und Unterschied sorgsam zu bewahren. Das kann bedeuten, dass man den

Anderen, sein Haus, seine Umgebung so wahrnimmt, wie zum ersten Mal. Anfängergeist nennt man das im Zen.
Wenn wir durch ein Rohatsu in der unendlichen Zazenhaltung eingepresst sind, dass wir das Gefühl haben, ohne Ausweg in Schmerz und Dasein gefangen zu sein, beginnt die wahre Praxis.

Das ist, was wir unseren Kindern statt Konsum beibringen sollten. Wir sollten ihnen die Normalität der Wildnis nahebringen, die kosmische Ordnung lehren, in der Dankbarkeit, Genug haben, Gemeinwohl, die Tugend und das Glück der maximalen Anstrengungung für etwas Sinnvolles und Lebendiges lehren. “Lerne! Lerne mehr! Streng dich an!”, ist nicht das, was ich meinte, weil sie nicht wissen, warum sie es tun sollen, sie wissen nicht, was der Sinn dafür ist. Sie lernen nur, wenn ich das tue, werde ich gelobt und kriege Süßes. Wir leben ihnen den Aktionismus vor, das schneller und schneller und mehr. Wir leben Ihnen das Leben in absurden digitalen Welten vor. Wir leben Ihnen vor, dass man um das alles auszuhalten und angenehmer zu machen Medikamente und Drogen zur Verfügung stehen. Diese nicht mehr natürliche Lebensweise, dieses abgekoppelt sein von der kosmischen Ordnung führt

Dazu, dass, je nach Schätzung, 10-15% der Kinder eine ADHS/ASS Diagnose haben, psychische Erkrankungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen erreichen jedes Jahr einen neuen Höchststand, Gewaltbereitschaft, Vandalismus und Kriminalität immer höhere Quoten. Die Kinder und Jugendlichen haben ihre ureigene Natur noch nicht gefunden, lass uns ihnen helfen.

Warum hast du mich geboren für das?, schrie ich als Jugendlicher einmal meine Mutter an. Vielleicht habt ihr, die dies liest, dies auch einmal getan oder zumindest gedacht. Viele Eltern haben es von ihren Kindern gehört, hoffe ich zumindest, denn dann besteht noch Hoffnung. Denn diese Kinder haben recht: Bin ich geboren worden, um in diesem egoistischen, selbstzerstörerischen System mitzuwirken.

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Als ich ein Kind war, hatte ich das Glück, etwas ungewöhnlicher aufzuwachsen als andere Kinder. Meine Eltern waren aus der Kriegskindergeneration, ihre Religion, wie bei den Meisten in den 50er/60er Jahren, der Wohlstand. Ganz besonders für meinen Vater, der als Allein-Bauernhof Erbe nicht aufs Gymnasium gehen durfte, weil ein Bauer einen Handwerksberuf braucht, so meinte zumindest sein Vater. Er lernte Schlosser bei Krupp und schuftete sich nach der Arbeit in Abendschulen zum Ingenieur. Das alles tat er natürlich für uns, für eine bessere Zukunft. Wir waren zunächst sehr arm, weil das wenige Geld in Weiterbildung investiert wurde. Wir sahen ihn selten, denn Karriere ging vor. (Zum Hohn ging der grosse Bauernhof irgendwann bankrott).

Und da war meine Mutter, die einen Auswärtigen geheiratet hatte, um endlich aus der Armut und Eintönigkeit des Dorflebens herauszukommen. Doch erstens blieben wir zunächst arm, zum zweiten war sie einsam in der Stadt, sah ihren Mann nicht und war bei schlechter psychischer und physischer Gesundheit. Und dann war ich noch da. Zunächst sehr brav und angepasst, zumindest nach aussen, aber mehr und mehr wild. Zuhause war es nicht lustig, draussen in der Natur schon, auch wenn diese Natur ziemlich übel dran war. Der Stadtteil, in dem ich lebte, hiess „Rote Erde“. Wie schön, denkt man vielleicht, doch der Boden bestand aus in Jahrzehnten zuvor abgelagerten roten Schlacke der Schwerindustrie. Die Eltern warnten uns, in der umgebenden Natur spielen zu gehen, wahrscheinlich zu Recht. Der Bach und die Gebüsche, in die wir ausbüxten, stanken fürchterlich nach irgendetwas Chemischen und Fauligem. Doch zog es einige von uns magisch an. Hier waren wir frei und fühlten uns ganz. Als Snack stibitzen wir das alte Brot, das die Menschen für die Vögel auf die Mauer legten.

Mit sechs zogen wir in eine grössere Wohnung in einen etwas besseren Stadtteil, aber immer noch Arbeiterviertel. Die Gesundheit meiner Mutter verschlechterte sich, mein Vater machte Karriere. Mehr und mehr durfte ich jetzt zu meinen Grosseltern aufs Land, die sich liebevoll um mich kümmerten. Hier waren die Bäche sauber und der Wald ganz nah. Natürlich war aber auch das nicht, denn die Belgier und Franzosen hatten den Wald als Reparationszahlung nach Kriegsende abgeholzt, doch für mich war er das Paradies, mein Traumland. Je älter ich wurde, desto weiter zog ich meine Kreise um das grosselterliche Dorf. Da ich nicht hier zur Schule ging und nur für ein paar Wochen da war, war ich meistens alleine.

Unser Auto wurde mit der Zeit besser, die Kleidung auch, die Nahrungsmittel teurer, die Wohnungseinrichtung nobler, die Ferien exklusiver, meine Freunde und ich wilder, auch in der Stadt suchten wir die wilden Orte auf: aufgelassene Industriehallen, die durch den Wildwuchs immer mystischer wurden, ein alter Steinbruch, der eine illegale Müllhalde war. Man musste aufpassen, denn neben den rivalisierenden Kinderbanden, der verschiedenen Strassen, – wir bekämpften uns nach zivilisierten Regeln, zumeist mit Blasrohren und getrockneten Erbsen, gab es eine Gang aus dem Gebiet am Rande des Stadtteils, das man Obdachlosensiedlung nannte. Es war sehr trostlos in einem Industriegebiet gelegen. Diese Kinder waren anders, sie gingen nicht in unsere Schule, sie waren immer zu viert oder fünft unterwegs und wer nicht aufpasste und ihnen in die Fänge geriet, wurde gnadenlos gequält und verprügelt. Deshalb schauten wir, dass wir immer mindestens zu zweit unterwegs waren und wenn sie in Sicht waren, gab es nur Flucht. Ich war oft alleine unterwegs, da ich viel Freiheit hatte und großen Bewegungsdrang. Einmal beim Spielen am Molchteich geriet ich in ihre Fänge, ein traumatisierendes Erlebnis.

Für uns, geprägt durch die Bücher von Winnetou und Lederstrumpf, war klar, die stadtnahe Wildnis war Freund und Feind zugleich, deshalb bewaffneten wir uns und pirschten unglaublich wachsam durch die ruderale Wildnis, bauten geheime Verstecke und Wege. Im Gegensatz war der Wald bei meinen Grosseltern weniger gefährlich, aber auch hier pirschte ich, wie im Buch Lederstrumpf gelesen, “fast” geräuschlos durch den Wald, baute eine hütte, zu der ich eine Quelle umleitete und versuchte mit selbstgebautem Pfeil und Bogen zu jagen, doch zum Glück gelang mir die Jagd nie. Das scharfe Beil als Grundwerkzeug und alte gebrauchte Nägel, klaute ich meinem Grossvater, der mir dies streng verboten hatte, aber ich bin sicher er wusste, was ich trieb, denn er sagte nie etwas, ausser die immer wiederkehrende Ermahnung. Ich denke, er sagte dies, um meine Grossmutter zu beruhigen, die sich immer sorgte.
Mein Grossvater war mithin die wichtigste Person in meinem Leben, er war lieb und sanft zu mir, er konnte mir nicht böse sein. Ich bewunderte ihn, er war Postbote und ab und an durfte ich mit auf seine Tour durchs Dorf. Er war eigentlich gelernter Holzschnitzer, wurde aber im Krieg von einer Handgranate sehr schwer verletzt, sodass er nicht mehr schnitzen konnte. Seine Lebensgeschichte ist für mich eine Heldengeschichte und beeindruckt mich bis heute. Ich erzähle sie ein andermal.
Bis zum 10ten Lebensjahr ging es gut weiter, ich war wohl, trotz der schwierigen häuslichen Situation. Meine Mutter wurde immer gebrechlicher, sie hatte eine Krankheit, wo in den Extremitäten die Arterien vor allem die Kapillare absterben, so dass ganz langsam die Blutversorgung aufhörte, was zur Folge hatte, dass die Extremitäten Enden absterben (“abfaulten”). Das alles war wohl unglaublich schmerzhaft, wie sie mir später sagte. Doch von dem wusste ich wenig, meine Eltern versuchten, mich da rauszuhalten. Wie ich später erfuhr, wurde sie morphiumsüchtig, das wiederum schlug sich auf ihre labile Psyche und sie wurde psychotisch. Für mich war sie einfach manchmal sehr seltsam und anstrengend und wenn mein Vater da war, stritten sie hauptsächlich. Ich schämte mich mehr und mehr für meine anstrengende Eltern und flüchtete nach Draussen. Trotzdem taten sie, dass weiss ich heute sehr gut, was sie konnten, damit es mir gut ging und dafür bin ich Ihnen unendlich dankbar. Und ich tat im Gegenzug wenig, um sie zu entlasten, ich war damit beschäftigt, meine Bedürfnisse zu befriedigen (Spielen, Wildnis).
Mit dem 10ten Lebensjahr änderte sich nun alles. Ich war nicht dumm und obwohl ich wegen meines Bewegungsdrangs auch in der Schule, die Diagnose “Zappelphilipp”, heute ADHS, bekam, wurde beschlossen mich aufs Gymnasium zuschicken. Dies gegen meinen Willen, denn die meisten anderen bildungsfernen Familien beließen es maximal auf einen Realschulbesuch. So gingen meine Freunde auf Haupt- und Realschule und ich aufs Gymnasium, denn ich sollte es ja besser haben. Nun war es so, dass in unserer Stadt ganz klar aufgeteilt war, wo arm und reich wohnten und da wo die Reichen wohnten, gab es die Gymnasien. Das heißt, ich musste mit dem Bus 50 Minuten ins Reichenviertel zum Gymnasium fahren.
Alles hier war für mich ein Schock, das Gymnasium war, ein humanistisches Gymnasium, dass sehr viel Wert auf seine guten Ruf hielt. Hier wurde Bildung noch hochgehalten. Die wenigen bildungsfernen Kinder, die hier zur Schule gingen, ich war der einzige meines Jahrgangs, aus dem Stadtteil, aus dem ich kam, unterschieden sich schon durch die Kleidung. Wir waren nicht mehr arm zuhause, aber trotzdem wurden Hosen und Pullover mit ledernen Aufnähern geflickt, die Kleidung zu gross gekauft oder als “Hochwasserhose/-pullover” getragen, bis man sie nicht mehr an kriegte, eigentlich sehr löblich und mit einer hohen Ökobilanz.

Das sah natürlich bei den Kindern der Besserverdienenden, wir nannten sie Reiche, anders aus. Samstagabend fuhren wir übrigens meistens, eines der wenigen Rituale, die wir hatten, auf einen Ausflug mit dem Auto. Wenn es dunkel wurde, fuhren wir langsam durch die Reichenviertel und schauten in die schön beleuchteten Häuser und träumten davon, auch einmal so zu wohnen. Wir spielten dann das Spiel, welches Haus wir kaufen würden, wenn wir im Lotto gewinnen würden. Und Lotto spielte mein Vater natürlich fleissig.

Jeder konnte also sehen, wer wir waren. Schlimmer war aber die Arroganz einiger Lehrpersonen. Wir waren bildungsfern und viel Wissen, die auf einem Gymnasium der damaligen Zeit vorausgesetzt wurden, brachten wir einfach nicht mit und konnten uns auch nicht aneignen. Am schlimmsten war es für mich in Deutsch, wo die klassische Literatur und ihre Autoren quasi vorausgesetzt wurden und wir bloßgestellt wurden, wenn man nicht wusste, dass dies Schiller oder Goethe geschrieben hatte und das Fach Musik, in das es mir nie gelang einzusteigen, weil die anderen, spielten fast alle eine Instrument, dies alles schon wussten.

Meine Noten waren schlecht, Lernen tat ich nicht, Hausaufgaben machte ich nicht, meine Eltern konnten mir oft auch nicht helfen. Mehr und mehr Migräne lähmte mich, ich wurde fülliger, weil ich meinen Frust durch Schokoladen Essen dämpfte. Ich wurde der Klassenclown, frech, in der gr. Pause schlich ich in den nahen Supermarkt und klaute dort Süssigkeiten, die ich dann grosszügig verteilte. Wenn ich gegen 14 Uhr todmüde nach Hause kam, stopfte ich mir Schokolade rein und lag erstmal depressiv herum. Meine Welt war zusammengebrochen und ich wusste nicht mehr weiter. In der 7. Klasse blieb ich sitzen, es wurde noch schlimmer. Nach und nach verlor ich den Kontakt zu meinen alten Freunden aus der Grundschulzeit. Neue gab es wenig und sie waren ja alle 50 Minuten Busfahrt entfernt. Ich las viel Jugendbücher, in denen es ja meist um das Ausbrechen ging, um ein Segelflugzeug zu bauen, um Abenteuer in der Clique und um Indianer. In dieser Welt lebte ich, und ausbrechen und Einheit fand ich nur, wenn ich wieder bei meinen Großeltern leben durfte. Meine Eltern berieten, ob sie mich ins Internat bringen sollten; zu Hausaufgaben und Lernen, versuchte man mich mit Prügel und Nachhilfe zu bringen. Nichts half, ich verweigerte mich….

“Warum hast du mich in diese Scheisswelt geboren?!”, frug ich meine Mutter wütend. Tief in mir spürte ich, dass dies nicht die “wahre” Welt war in der ich lebte, doch war mein Selbstbewusstsein nur so gross, Widerstand zu leisten, einen Gegenentwurf hatte ich nicht. Der Sinn fehlte!

Niemand konnte ihn mir zu diesem Zeitpunkt geben. Ich ahnte nur etwas. Auch weil ich inzwischen einen anderen ganz wichtigen Menschen kennengelernt hatte. Einen Pfarrer mit Namen H.Woopen, der bei uns am Gymnasium Religionslehrer war und die wöchentliche Schulmesse las.

In der Schulmesse, die in dieser Zeit noch für alle katholischen Kinder verpflichtend war, predigte er über seine Erfahrungen als Bergsteiger in den Alpen, von seinen Schwierigkeiten unter extremen und existentiellen Bedingungen. Er redete über Natur- und Gotteserfahrung! Das war etwas, was mich interessierte! Faszinierend für mich, so dass ich an seinen Lippen hin und mich auf jede Schulmesse freute. Auch im Unterricht verhielt er sich anders, er übte keinerlei Autorität aus und hielt aus, wenn wir Jungs ihn in der Klasse ignorierten und blödelten. Stattdessen lächelte er uns milde und mitfühlend an, auch wenn mal eine ganze Stunde kein Unterricht stattfand. Später erfuhr ich, dass er der einzige war, der sich bei Lehrerkonferenzen, die mein undiszipliniertes Verhalten zum Thema hatten, für mich einsetzte. Ahnte er etwas über mein “Grundsatzleiden”?

Diese Person schaffte es, dass ich freiwillig mit Eltern und Grosseltern auch Samstag oder Sonntag in die Messe ging. Da war etwas Grosses, Tröstliches und Unfassbares.

Was ist unser Lebensziel, was ist unser Lebenssinn, dass ist die Aufgabe eines Erwachsenen, sich das klar zu machen. Wie Okumura Roshi immer sagt: You must face the question? Thats all!
Für uns buddhistisch inspirierten Menschen und den Weg Übenden ist unser Ziel in den 3 Boddhisattva Gelübden formuliert. Wir übergeben uns dem Buddhaweg, geloben und praktizieren.

“Leben durch Gelübde”, so heißt das Buch von S. Okumura. Wenn wir sie rezitieren, erheben wir uns über das begrenzte Leben. Trotzdem werden wir immer gewöhnliche Menschen bleiben und Teil dieser Gesellschaft und dennoch kann die Menschheit durch die buddhist. Praxis, neue Ziele und Motivationen bekommen und selber zum Normalzustand, zur eigenen Wildheit zurückkehren.